von UG




Ein Junge bricht auf einem zugefrorenen See ein und ertrinkt.
Leute in der Umgebung schauen tatenlos zu.

Neonazis hetzen einen Ausländer durch die Stadt.
Leute in der Umgebung schauen tatenlos zu.

Jetzt ist es schon wieder passiert. Ich kann es nicht glauben.
Gestern abend (12.1.2001) auf dem Heimweg von der Arbeit höre ich es im Radio und lese es später zu Hause in der Stuttgarter Zeitung.
Eine junge Frau wird  am Dienstagabend in Stuttgart an der S-Bahn-Haltestelle Nordbahnhof von drei Männern angesprochen. Sie reagiert nicht. Zwei der Männer packen sie und zerren sie in eine Toilette. Ein Mann vergeht sich an ihr.

Sie ruft um Hilfe. Vergeblich.
Es waren keine Leute in der Nähe?
Doch, es waren Leute in der Nähe. Wochentags um 20.00 Uhr sind noch viele Passanten und Fahrgäste unterwegs. Um diese Zeit fahren mehrere S-Bahnlinien im Minutentakt. In 50m Entfernung sind zwei Telefonzellen, eine Bushaltestelle, eine Straßenbahnhaltestelle und ein Taxistand. In der Umgebung sind Wohn- und Bürohäuser.

Die Leute haben weggeschaut, weggehört, einfach nicht reagiert:

"Jemand anders wird sich schon drum kümmern."
"Warum soll gerade ich was unternehmen?"
"Vielleicht ist es ja doch nur Spaß."
"Es sind so viele, da kann ich ja doch nichts machen."
"Ich muss nach Hause."
"Gleich kommt mein Zug."
"Es hört wahrscheinlich gleich auf."
"Das geht mich doch nichts an."
"Ich mach' lieber nichts, sonst greifen die noch mich an."
"Der dort drüben ist kräftiger, der kann besser eingreifen."
" ..."

So oder ähnlich waren wohl die Gedanken dieser Leute. So rechtfertigen sie wohl vor sich selbst, vor ihrem Gewissen, ihre Untätigkeit, ihre unterlassene Hilfeleistung.
Ja, Wegschauen, Nichtstun in einer solchen Situation ist unterlassene Hilfeleistung. Das ist strafbar. In einer solchen Situation hat jeder die Pflicht zu helfen. Das ist nicht nur Gesetz, das ist Mitmenschlichkeit, das ist eine moralische Verpflichtung.

In welcher Gesellschaft leben wir denn, wenn einer Frau in einer solchen Situation nicht mehr geholfen wird? Frauenselbstverteidigung in allen Ehren, aber selbst eine gut trainierte Frau kann sich nicht gegen drei Männer zur Wehr setzen. Jemand von den Passanten, den Fahrgästen hätte ihr helfen müssen.
Kann man es wirklich vor sich selbst verantworten in einer solchen Situation einfach wegzuschauen?

Was empfindet die junge Frau jetzt?
Wahrscheinlich ist sie ein Leben lang traumatisiert. Einmal ganz klar durch die Unmenschen, die ihr Gewalt angetan haben. Aber auch durch die anderen Leute, die Durchschnittsbürger, von denen sie wusste, dass sie in der Nähe sind und die trotz ihrer Hilferufe nichts unternommen haben. Dieses Verbrechen wird nicht nur ihr Verhältnis zu Männern, sondern  auch zu ihren Mitmenschen, zur ganzen Gesellschaft für immer prägen. Von nun an wird sie jeden, der ihr begegnet, mit der stummen Frage anschauen:

Hättest Du mir geholfen?

Hätte ich geholfen?

Ja, ich hätte geholfen.
Mit dem Handy hätte ich die Polizei gerufen.
Bis die Polizei kommt hätte ich andere Leute auf dem Bahnsteig angesprochen: "Hören Sie mal, da ruft doch jemand nach Hilfe, lassen Sie uns mal zusammen nachschauen (Gemeinsam sind wir stark!)".
In letzter Instanz hätte ich allein versucht der jungen Frau zu Hilfe gekommen.
Vielleicht wären ja meine mageren Taekwondo-Kenntnisse nützlich gewesen. Vielleicht auch nicht.

Ich hätte Angst gehabt, ich bin nicht mutig, ich bin kein Held. Aber ich hätte nicht weggeschaut.

Sie hätte meine Tochter sein können.